Mohammed: Staatsmann in Medina

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Mohammed: Staatsmann in Medina
[…] Um dem polytheistischen Mekka und den Verfolgungen
dort zu entkommen, folgte Mohammed im
Jahre 622, dem Beginn der islamischen Zeitrechnung
(hidjra), einer Einladung aus Medina, wo er sich nicht
nur als Prophet, sondern auch als Schlichter zwischen
den dortigen, miteinander verfeindeten Stämmen ein
erhebliches Ansehen schuf und in die Rolle des politischen
Führers dieses Gemeinwesens hinein wuchs.
Die Ablehnung, auf die er bei einigen dort lebenden
jüdischen Stämmen (die es in Mekka nicht gab) stieß,
ließ ihn zu der Überzeugung gelangen, dass die Juden
die ursprünglich an sie gerichtete Offenbarung
verfälscht haben müssten, ein Vorwurf, in den er
schließlich auch die Christen mit einschloss.

Von Mekka nach Medina
Entsprechend änderten sich Tenor und Inhalt der
in Medina offenbarten Koranverse. Der Begriff „Islam“
(„Hingabe an Gott“) wird zunehmend zur Bezeichnung
einer neuen Religionsgemeinschaft, die sich
nicht nur von den heidnischen Stammeskulten auf
der arabischen Halbinsel absetzt, sondern sich auch
im Gegensatz zu den beiden anderen monotheistischen
„abrahamitischen“ Religionen sieht: „Abraham
war weder Jude noch Christ. Er war ein Hanifmuslim
und kein Polytheist“ (3,67), wobei es sich bei hanif im
koranischen Verständnis um einen vorislamischen
Monotheisten handelt und „Muslim“ gewiss noch
„gottergeben“ bedeutet. Doch „Islam“ als Bezeichnung
der neuen Religionsgemeinschaft und „Muslim“
als einer ihrer Anhänger beginnen sich rasch zu verfestigen.
So heißt es ausdrücklich in der in Medina offenbarten
Sure 3,85: „Wenn sich aber einer eine andere
Religion als den Islam wünscht, wird es nicht von ihm
angenommen werden. Und im Jenseits gehört er zu denen,
die den Schaden haben.“

Und auch ein weiterer Begriff rückt in Medina immer
stärker ins Zentrum der Offenbarung, nämlich
die „umma“, die „Gemeinschaft“, die aber nicht nur
Religions-, sondern auch eine politische Gemeinschaft,
heute würden wir sagen: ein Staat, ist: „Ihr seid
die beste umma, die unter den Menschen entstanden
ist. Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich
ist, und glaubt an Gott. Wenn die Leute der
Schrift (d. h. Juden und Christen) glauben würden,
wäre es besser für sie. Es gibt zwar Gläubige unter ihnen,
aber die meisten von ihnen sind Frevler.“ (3,110)
Schon kurze Zeit nach seiner Auswanderung in
das rund 40 km entfernte Medina entstand dort ein
bemerkenswertes schriftliches Vertragswerk, die so
genannte „Verfassung von Medina“, worin das Zusammenleben
der verschiedenen Stämme und die
Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung im
Kriegsfall geregelt sind. „Sie sind eine einzige umma,
verschieden von anderen“, heißt es gleich zu Beginn
des Textes. Und – erstaunlich genug – auch die Juden
von Medina erscheinen in dem Dokument noch als
gleichberechtigte Partner innerhalb der umma: „Zwischen
ihnen besteht eine (gegenseitige Verpflichtung
zur) Hilfe gegen jeden, der die Leute dieses Dokuments
angreift. Zwischen ihnen besteht aufrichtige
Freundschaft und ehrenvoller Umgang, kein Verrat.“
Und ausdrücklich heißt es auch: „Den Juden ihre Religion
und den Muslimen die ihre.“

Bemerkenswert an diesem Dokument ist ferner
die recht bescheidene Rolle, die darin Mohammed zugewiesen
wird. Zwar wird er an ein, zwei Stellen als
„Gesandter Gottes“ bezeichnet, doch die einzige Aufgabe,
die ihm explizit zukommt, ist die des Vermittlers
und Schlichters: „Wenn immer es etwas gibt, worüber
ihr uneins seid, soll dies Gott und Mohammed
vorgelegt werden.“

Politiker und Herrscher
Die hidjra wurde von keinem der Betroffenen als
Zeichen der Schwäche, sondern als Ausdruck eines
pragmatischen Ausweichens vor den Verhältnissen in
Mekka empfunden. Indem die neue Gemeinschaft
sich von den bekämpfenden Zwängen der alten qurayshitischen
Ordnung befreite, war nun die Voraus-

setzung geschaffen, den Status der teils lästigen, teils
belächelten Sekte abzustreifen und unbehindert
durch Repressalien und Diffamierungen ein originäres
Profil sowie eine Ordnung eigener Prägung zu entwickeln.
Die Situation in Medina kam Muhammad in dieser
Hinsicht sehr entgegen. Jahrelange, religiöse Streitigkeiten
zwischen den dortigen Stämmen der Aus und
Khazradj über ihren traditionellen Glauben an die
Schicksalsgöttin Manai hatten die Parteien ausgezehrt
und schließlich zu dem gemeinsamen Willen
gebracht, sich unter diesem neuen Verkünder und
seiner überzeugend wirkenden Glaubenslehre an den
einen Allah zu vereinigen. Die neuen medinensischen
Gefolgsleute Muhammads gingen in die Geschichte
des Islam als die „Helfer“ (ansar) ein, die „Auswanderern“
(muhadjirun) nicht nur eine dauerhafte Zufluchtsstätte
ermöglichten, sondern auch die Ausgangsbasis
für die geschichtliche Entwicklung der
neuen Religion schufen.
Unter der alles erfassenden Universalität des Eingottglaubens
an Allah wies Muhammad nun dem
Menschen eine neue Rationalität zu. Der Zufallsabhängigkeit
des arabischen Lebens setzte er die ordnende
Macht Allahs und eine neue Denk-, Verhaltensund
Gebetsordnung entgegen. Ziel- und Zügellosigkeit
stammesmythischer Verhaltensmuster sollten der
Unterwerfung unter das Gesetz Allahs weichen, das
Hingabe im Glauben und die Ausrichtung auf das
Endgericht in der Hoffnung auf sein Erbarmen forderte.
In dem Maße, in dem die neue Gemeinschaft die
Fesseln alter Religions- und Stammesidentitäten abstreifte,
stärkte sie die Herausbildung eigener Konturen,
die ihren Ausdruck in der Ausarbeitung allgemeiner,
u. a. als „erste Gemeindeordnung des Islam“
propagierter Regeln und Normen fanden.
Die jüdischen Elemente in den mekkanischen Verkündigungen
bildeten für Muhammad den geeigneten
Anknüpfungspunkt für Gespräche mit den starken
jüdischen Stämmen Medinas, deren geschulte
Theologen indes seine Unkenntnis der jüdischen
Überlieferung rasch bloßlegten. Sie zweifelten seine
Propheteneignung an, lehnten sein Ansinnen eines
Übertritts als entlegen ab und trugen ihre Stellungnahmen
überdies in einer unübersehbar ironisierenden
Form vor. Eine derartige Strategie musste sich
allerdings nicht nur hinsichtlich Muhammeds dominanter
Persönlichkeit als ungeeignet erweisen; sie
drohte auch, seine Stellung in der sich neu formierenden
Gemeinschaft in Zweifel zu ziehen. Unmissverständliche
Konsequenzen konnten und durften nicht
lange auf sich warten lassen.
Im Jahre 624 wurden die Stämme der Nadir und
Qaynuqa unter Einbehaltung ihrer Besitztümer nach
Khaybar in Nordarabien vertrieben, 627 ging Muhammad
gegen den noch verbliebenen Stamm der Qurayza
vor, deren Kontakte zu den nach wie vor feindlich
gesinnten mekkanischen Quraysh den willkommenen
Vorwand boten, ein radikales Exempel zu statuieren.
In einem fast zwei Tage währenden Massaker ließ er
eine nicht näher bekannte Anzahl (600 bis 700)
männlicher Personen in ein eigens hergerichtetes
Massengrab steigen und in seiner Gegenwart hinrichten.
Die Frauen und Kinder wurden in die Sklaverei
verkauft bzw. unter die Gefolgsleute verteilt. Dass er
eine der Witwen, die 18-jährige Rayhana Bint Zayd,
für den eigenen Konkubinenbestand rekrutierte,
schrumpfte vor Monstrosität des Vorgangs zur Randnotiz.
Die psychologischen Auswirkungen dieses Massakers
auf die Umgebung Muhammads können jedoch
kaum überschätzt werden. So schlagartig wie das Ereignis
auf die Menschen wirkte, so nachhaltig hatte
sich jeder Zweifel an seiner Machtposition im Allgemeinen
und am Prophetenstatus im Besonderen verflüchtigt.
Bei seinen Anhängern verbliebene Skrupel
wurden durch einschlägige Offenbarungen beruhigt.
Selbst seine mekkanischen Widersacher, die keine Gelegenheit
ungenutzt gelassen hatten, seinen Aufstieg
zu verhindern und ihn dabei möglichst auch noch der
Lächerlichkeit preiszugeben, waren nun sehr nachdenklich
geworden.
Die Zeit zwischen 624 und 627 bezeichnet nicht
nur die nachhaltige Beseitigung des jüdischen Widerstands
gegen Muhammads neue Lehre; sie steht für
die ebenso rigorose Überwindung der arabischen
Dichterkritik und vor allem für die wirtschaftliche Festigung
der Gemeinschaft durch eine Reihe erfolgreicher
Raubzüge, wie sie für die Zeit und die Religion
üblich waren. In kurzer Reihenfolge ließ Muhammad

624 die unbequeme
medinensische Dichterin
Asma‘ Bint Marwan
und den angeblich 100-
jährigen Abu Afak im
Schlaf umbringen. Beide
hatten sich durch
Spottgedichte missliebig
gemacht und ihr Leben
entsprechend verwirkt.
Im Jahre 627
folgte Ka’b Ibn Ashraf,
ein Halbjude, der den
mekkanischen Erzfeind
zu Maßnahmen gegen
Muhammad aufgerufen und damit ebenfalls Todesmut
bewiesen hatte. Ihre und anderer Gegner Beseitigung
durch eine „Elite“ innerhalb einer steigenden
Zahl williger Auftragstäter – ohne wirksame Option
zu Gegenaktionen für die betroffenen Stämme – verdeutlicht
die faktische Usurpation des Rechts durch
den Verkünder sowie seine Heraushebung über die
noch geltende Blutrache.
Die Beseitigung religiös-politischer Gegner unter
Rückgriff auf Muhammads aktive Vorbildfunktion
wurde rasch zu einem integralen Bestandteil und Verhaltensmuster
islamischer Machtsicherung, wie sich
unschwer dem einschlägigen Katechismus des andalusischen
Qadi ‘Iyad al-Yahsubi (gestorben 1149) entnehmen
lässt. Das Todesurteil (fatwa) gegen den
indo-britischen Autor Salman Rushdie ist das bekannteste
moderne Beispiel für die im Prinzip bis in die
Gegenwart unverändert gebliebene Geltung dieser
Handlungsoption. […]
Weitere Raubzüge und Razzien in der Region
stärkten Ansehen und Besitz der Gemeinschaft so
nachhaltig, dass ihr die Konvertiten nun zu Tausenden
zuströmten.
So konnte Muhammad bereits im Jahre 630 vertragswidrig
mit einem für die Zeit gewaltigen Heer
vor Mekka erscheinen und seinen alten Widersacher,
den qurayshitischen Statthalter Abu Sufyan, zur Übergabe
der Stadt zwingen. Widerstände der mekkanischen
Sippen gegen den verhassten Emporkömmling
zerstreute dieser durch reiche Beuteverteilung und
Geschenke in so generöser
Form, dass sie erhebliche
Proteste seiner
treuen medinensischen
Helfer mit der Gefahr eines
ernsten Zerwürfnisses
provozierten. Nur
durch sein Versprechen,
„auf immer in ihrer Mitte“
bleiben zu wollen,
waren sie letztlich zu
besänftigen. Zusammen
mit dem Verkünder
konnte die neue Gemeinschaft
dann allerdings
den ungeheuren Triumph des erstmaligen Vollzugs
der umgestalteten Wallfahrt auskosten. Ritus
und Heiligtum waren nun Abraham als der von Muhammad
für den Islam beanspruchten Urgestalt des
monotheistischen Glaubens gewidmet. Die Quraysh
hielten sich derweil klug zurück, denn wenig später
sollte sich herausstellen, dass sie Einfluss und Privilegien
nur für den Moment verloren hatten.
Zwei Jahrzehnte hatten dem Gesandten Allahs genügt,
in einem zweischichtigen Entwicklungsprozess
auf spiritueller und politischer Ebene die Basis für das
kommende Buch des Islam zu legen und zugleich seiner
Gemeinschaft, der umma, diejenigen Denk- und
Verhaltensmuster aufzuprägen, die für ihre gesamte
weitere, historische Entfaltung von entscheidender
Bedeutung sein sollten.
Hierzu gehörten vor allem die bedingungslose
Unterwerfung unter das Gesetz Allahs, die unbedingte
Treue zur Glaubensgemeinschaft der umma, die
Hingabe des persönlichen Lebens an den Ritenvollzug,
die rigorose Verfolgung islamischer Interessen
bis zum Einsatz von Gewalt und die Vereinnahmung
größtmöglicher Vermögen zur Alimentierung sowohl
der Obrigkeit als auch der Schwächeren unter den
Gläubigen.
Da der Gemeinschaft eine kollektive Heilsbestimmung
zugeordnet wird und die Obrigkeit als von Allah
eingesetzt gilt, stehen beide in einem unauflöslichen
Spannungsbezug […].

2 Kommentare

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2 Antworten zu “Mohammed: Staatsmann in Medina

  1. Pingback: Wenn einen Morde nicht zum Mörder machen « quotenqueen

  2. Amina

    Sehr schön

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