Der Islam als selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft

Prämisse aller Bemühungen um die Überwindung islamophober Stereotype muss die Anerkennung der schlichten Tatsache sein, dass der Islam zu einem dauerhaften Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden ist. Diese Realität war bekanntlich bis in die 1990er Jahre hinein verdrängt worden. Über Jahrzehnte hinweg war man in Deutschland auf allen Seiten davon ausgegangen, dass es sich beim Islam hierzulande um eine vorübergehende „Gastarbeiterreligion“ handelte, deren nachhaltige Integration in die Gesellschaft kein Thema sein müsste. Die sprichwörtlichen Hinterhofmoscheen standen symbolisch für eine provisorische religiöse Selbstversorgung am Rande der Gesellschaft und zunächst ohne Perspektive der Dauer. Erst in den letzten Jahren hat sich in der Breite der Gesellschaft die Einsicht durchgesetzt, die Bundesinnenminister Schäuble im Vorfeld des von ihm einberufenen ersten Islamgipfels wie folgt formuliert hat: „Im Land leben rund drei Millionen Muslime, aber wir haben keine Beziehung zur vielfältigen muslimischen Gemeinschaft, obwohl sie ein fester Teil unserer Gesellschaft ist.“106

Bei der politischen Anerkennung dieser Realität dauerhaften muslimischen Lebens in Deutschland darf es keine Zweideutigkeiten geben. Abstrakte Grundsatzdebatten darüber, ob der Islam in die westliche Gesellschaftsordnung hineinpasse und überhaupt mit der Wertordnung einer liberalen Demokratie kompatibel sei, sind wenig hilfreich, aber nach wie vor sehr beliebt. Sie können eine gefährliche Signalwirkung entfalten, wenn sie den Eindruck erwecken, es gebe politisch verantwortbare Wege, die Etablierung einer islamischen Minderheit in Deutschland in Frage zu stellen oder gar praktisch zu revidieren. Hinter die von Schäuble formulierte Einsicht, dass Muslime ein „fester Teil unserer Gesellschaft“ sind, kann es kein Zurück geben, und politische Stellungnahmen, die daran irgendwelche Zweifel wecken, wären verantwortungslos.

Die Anerkennung der Präsenz des Islams in Deutschland impliziert auch die Akzeptanz seiner öffentlichen Sichtbarkeit. In einer den Menschenrechten verpflichteten frei- heitlichen Gesellschaft ist Religion – entgegen einem verbreiteten Vorurteil – eben nicht nur Privatsache. Dass sich religiöse Überzeugungen und religiöses Leben auch öffentlich sichtbar darstellen können, ist vielmehr Bestandteil der verfassungsrechtlich und völkerrechtlich verbürgten Religionsfreiheit.107 Sieht man einmal von der seit Jahren kontrovers diskutierten Spezialfrage, ob Lehrerinnen im öffentlichen Schul- dienst das Kopftuch tragen dürfen, ab,108 gilt die Einsicht, dass ein freiheitlicher Rechtsstaat keine Kleiderordnung vorschreiben kann. Auch der Bau repräsentativer Moscheen findet Rückhalt in der Religionsfreiheit.109

Die Einsicht in die dauerhafte Präsenz muslimischer Minderheiten steht im Hintergrund auch der aktuellen Bemühungen um die Einführungen eines islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach.110 In der politischen Diskussion um die Integration muslimischer Minderheiten wird diesem Thema zu Recht ein hoher Stellenwert eingeräumt, hängt doch die langfristige Entwicklung des Islams in Deutschland entscheidend davon ab, wie die islamischen Lehren und Lebenspraktiken von Generation zu Generation weitergegeben werden. Für viele muslimische Eltern ist die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in der Schule ein wichtiges Anliegen. Auch islamische Verbände treten seit Jahren für ein solches Unterrichtsfach in deutscher Sprache ein. Auf einer grundsätzlichen Ebene ist der islamische Religionsunterricht zugleich zum Testfeld dafür geworden, ob es gelingt, die Kooperationsstrukturen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, die sich historisch im Gegenüber des Staates zu den christlichen Kirchen entwickelt haben, auf den entstandenen religiösen Pluralismus hin zu öffnen und dem Islam als einer mittlerweile hierzulande heimisch gewordenen Religion angemessenen Raum zu geben.111

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Fußnoten:

106 Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Interview des SPIEGEL 38/2006 (vom 18.09.06), S. 85f.
107 Paradigmatisch zeigt sich dies in der Formulierung der Religionsfreiheit durch die Europäische Menschenrechtskonvention. Artikel 9 Absatz 1 lautet: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltan- schauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“ Der Sache nach verbürgt das Grundgesetz in Artikel 4 die Religionsfreiheit in derselben inhaltlichen Reichweite. Die von der Religionsfreiheit her entwickelte Säkularität des Rechtsstaats hat deshalb mit einer von Staats wegen forcierten „Privatisierung“ des Religiösen nichts gemein.
108 Vgl. dazu Heide Oestreich, Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam, Frankfurt a.M. 2004.
109 Die Gewährleistung der Religionsfreiheit kann im Übrigen nicht davon abhängig gemacht werden, ob in den Herkunftsländern der hier lebenden Muslime die Religionsfreiheit ebenfalls geachtet wird. Denn der Status der Religionsfreiheit als Menschenrecht schließt es aus, dass religiöse Minderheiten als Pressionspotenzial zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen, mögen diese auch noch so legitim sein, eingesetzt werden.
110 Vgl. Martin Stock, Islamunterricht: Auf der Suche nach dem richtigen Weg, in: Barwig, Klaus/Davy, Ulrike (Hg.): Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit? Konzepte und Grenzen einer Politik der Integration von Einwanderern, Baden-Baden 2004, S. 430-450.
111 Vgl. Ansgar Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: Andreas Haratsch u.a. (Hg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat. Assistententagung Öffentliches Recht 2001, Stuttgart 2001, S. 9-47.

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21. Juni 2014 · 03:12

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